Liebe zeitkritische Geister in kritischer Zeit.
Im Dezember 2016 war der jahrelange Kampf um Aleppo entschieden. Assad und Putin hatten den Islamischen Staat und andere Djihadisten besiegt. Die früher blühende Stadt war ein Trümmerfeld. Wir erinnern uns an die furchtbaren Bilder in den Medien, welche uns täglich geliefert wurden. Ich erinnere mich auch an die Ärzte, welche aus ihren zerschossenen Kliniken die Not schilderten und um Hilfe baten, während viele ihrer Kollegen nach Deutschland flohen.
Nun beginnt der Aufbau, und jede Hand wird gebraucht. Da stelle ich wieder die Frage, die mich schon lange plagt. Müssen wir nicht in den Medien und von den Kanzeln eine Kultur des Abschieds und der Heimkehr fördern? So wie eine Willkommenskultur sinnvoll und notwendig war, muss es nach meiner festen Überzeugung auch jene Kultur geben, welche bei den Geflohenen das Gefühl für die Heimat wach hält und die innere Verpflichtung zum Aufbau weckt. Ich erinnere an die vielfältige Phantasie, welche zu einer Willkommenskultur führte. Wenn man wirklich will (!!), werden die Politiker und Kirchenleute sowie die Gesellschaft insgesamt ebenfalls Phantasien für eine Kultur des Abschieds und der Heimkehr entwickeln! Dies hat nichts mit Abschiebung zu tun.
Mir ist klar, dass die national-egoistischen Interessen der deutschen Wirtschaft und Politik sowie der deutschen Gesellschaft insgesamt sich nur schwer mit diesem Gedanken anfreunden. Schon oft habe ich an dieser Stelle den Imam Mohammed Ayed von der Al-Aksa Moschee auf dem Tempelberg zitiert, der bereits in seiner Freitagspredigt Ende 2015 erregt und vorwurfsvoll den Vorwurf machte, die Flüchtlinge würden nicht aus Mitgefühl und Nächstenliebe aufgenommen sondern wegen wirtschaftlicher Interessen. Wie recht er doch hatte und leider immer noch hat! Oder?
Ich habe von Aleppo gesprochen. Insgesamt findet z.B. im gesamten Syrien ein Aufbau statt. Ein deutliches Zeichen dafür ist unter anderem die Internationale Messe als Auftakt für den Wiederaufbau in Damaskus. Sie wurde von 300.000 Interessierten besucht. 43 Unternehmen stellten ihre Produkte und Ideen aus! Es wäre ein Frevel, und Deutschland würde vor der Geschichte Syriens schuldig, wenn wir Berufsgruppen vom Handwerker und Mechatroniker bis zum Architekten, Arzt, Computerspezialisten sowie Fachkräfte im pflegerischen Bereich national-egoistisch bei uns „integrieren“ würden und sie damit dem notwendigen Neuaufbau zerstörter Städte, Dörfer und ganzer Infrastrukturen in Syrien vorenthalten.
Ein Freund, dessen Herzensangelegenheit es ist, sich auf vielfache Art und Weise um die in Syrien und Irak zurückgebliebene Bevölkerung zu kümmern, hat mir einen Brief aus Aleppo zukommen lassen. Ich empfehle Ihnen ausdrücklich die Lektüre dieses Briefes, der freilich nicht nur Aleppo betrifft. Der Brief ist von den „Maristen Brüdern“ geschrieben. Sie sind eine christliche Ordensgemeinschaft.
Brief Nr. 31 der Blauen Maristen aus Aleppo vom 24. September 2017Übersetzung des französischen Originals
Weder Krieg noch Frieden,
so kann ich die aktuelle Situation Syriens im Monat September 2017 beschreiben, sechseinhalb Jahre nach dem Beginn der Ereignisse, die 350 000 Menschen den Tod brachten, einen großen Teil des Landes zerstörten, ein Drittel der Bevölkerung vertrieben, mehr als 3 Millionen ins Exil zwangen, die Träume und die Zukunft der Jugend und mehrerer Generationen von Syrern zunichte gemacht haben.
Gegenwärtig haben alle Parteien, die Regierung und die Weltmächte nur das eine Ziel: Ausrottung des IS (Islamischen States) in Syrien, nachdem er im Irak besiegt ist. Die letzten Bastionen des IS sind zwei Städte im Osten: Rakka, das vomIS zur Hauptstadt in Syrien erklärt wurde und Deir Az Zor, wo die Hälfte der Stadt mit ihren Einwohnern und der Garnison seit mehr als drei Jahren von den Djihadisten eingeschlossen war und aus der Luft versorgt wurde. Die erstere wurde zur Hälfte von kurdischen Truppen mit Unterstützung durch die USA befreit, die zweite ist nahe dran befreit zu werden, die syrische Armee konnte trotz schwerer Verluste die Dörfer und Städte der Provinz Deir Az Zor befreien und durchbrach die Belagerung der Stadt in Verbindung mit den eingeschlossenen Bewohnern. Die Syrer in anderen syrischen Städten bekundeten vorzeitig ihre Freude über die Befreiung von Deir Az Zor, die aber noch nicht ganz vollendet ist. Dennoch, wenn der IS in diesen beiden Städten und den umliegenden Dörfern definitiv geschlagen ist, so bedeutet das ein Ende des IS in Syrien.
Im übrigen Syrien ist „weder Krieg noch Frieden“. In Astana / Kasachstan, wo unter der Führung von Russland, Türkei und Iran schon seit einigen Monaten die Verhandlungen zwischen den Parteien stattfinden, wurden mehrere Vereinbarungen zur Evakuierung der Rebellen aus den von ihnen besetzten Enklaven getroffen, und man hat ihnen den Abzug in die Provinz Idlib gestattet, der Hochburg von Al Nusra. Außerdem haben mehrere Vereinbarungen der Deeskalation es ermöglicht, in mehreren Regionen die Kämpfe einzustellen und die jeweilige Situation einzufrieren: Der Osten von Damaskus, Homs, Idlib….
Obwohl sich die Syrer glücklich schätzen, dass hier und dort die Kämpfe aufhören, befürchten sie, dass der Fortbestand dieser Situation nicht von Dauer ist und in ein weiteres Chaos führt, in eine Teilung oder Aufteilung in verschiedene Einflusszonen, es sei denn, diese Unterbrechung werde von einem deutlichen Fortschritt in den Verhandlungen mit dem Ziel einer politischen Lösung des Konflikts begleitet.
Was uns ein wenig optimistisch stimmt, ist die Tatsache, dass die Mehrzahl der arabischen, westlichen und türkischen Regierungen, welche von Anfang an die Rebellen, die meisten davon Terroristen, unterstützten, finanzierten und sogar bewaffneten, endlich begriffen haben, dass die syrische Regierung nicht, wie sie dachten und wünschten, mit Waffengewalt beseitigt werden kann, und dass eine politische Lösung nur mit der Erhaltung des Präsidenten, der von der Bevölkerung weitgehend unterstützt wird, machbar ist. Die syrische Armee ist mit der russischen verbündet. Daher die verschiedenen Äußerungen der Führer der westlichen Welt, die darauf hinweisen, dass die Bekämpfung des IS und des Terrorismus Priorität hat – was die syrische Regierung seit 6 Jahren immer wiederholt – und nicht der Sturz des Regimes.
In Aleppo hat sich die Situation in allen Bereichen seit Ende 2016 deutlich verbessert, dem Zeitpunkt der Evakuierung der letzten Terroristen nach Idlib und der Befreiung der Stadt. Wie vor Juli 2012 gibt es kein Aleppo West und Aleppo Ost mehr, sondern eine einzige tausendjährige Stadt, Aleppo. Einige Viertel von Aleppo, die im westlichsten Teil liegen, erhalten weiterhin täglich Einschläge von Mörsergranaten, die von Rebellen die in 10 km Entfernung von der Seite Idlib abgefeuert werden.
Doch die allermeisten Stadtviertel Aleppos sind sicher und die Aleppiner bewegen sich frei und ohne Angst vor einem Mörsergeschoss oder der Kugel eines Heckenschützen. Wenn ein Fremder, der die Ereignisse und Qualen von Aleppo verfolgt hatte, uns jetzt besuchen käme, würde er staunen über die Dichte des Verkehrs, die Beleuchtung der Straßenkreuzungen, die voll besetzten Kaffees, die freigeräumten Straßen, alle offen für den Verkehr,die Parkanlagen voll mit spielenden Kindern, den Schulbus in Aktion, die Bürgersteige frei von tausenden Baracken, die als Läden dienten und durch die Wiedereröffnung der während des Krieg geschlossenen Geschäfte entbehrlich wurden. Es gibt fließend Wasser an wenigstens zwei Tagen in der Woche und täglich zwischen 12 und 15 Stunden Strom.
Dennoch, so rosig ist das Gemälde auch nicht. Diese Situation „weder Krieg noch Frieden“ ermutigt die hunderttausende Aleppiner, geflüchtete und vertriebene, nicht zurück zu kommen. IOM (Internationale Organisation für Migration) erklärte kürzlich, dass 600 000 Personen, die Mehrzahl davon aus der Provinz Aleppo, zu ihren Wohnungen zurückgekehrt seien. Da muss man differenzieren, denn die Mehrzahl waren interne Vertriebene, welche in ein anderes Stadtviertel oder eine andere syrische Stadt vertrieben waren. Diese Situation hilft auch nicht zum Wiederaufbau – wozu Wiederaufbau, wenn es keinen Frieden gibt – und auch nicht zu einem wirtschaftlichen Aufschwung, da die Investoren sich abwartend verhalten. Die Lebenshaltungskosten und die Arbeitslosigkeit sind allezeit sehr hoch, genau so die Armut. Die meisten Familien in Aleppo brauchen noch Hilfe zum Überleben.
Angesichts dieser Situation und der neuen Entwicklungen wollen wir, die Blauen Maristen, den Wiederaufbau fördern, den Akzent auf die menschliche Entwicklung setzen, und uns anstrengen eine Zukunft der Syrer in Syrien zu schaffen. Seit Beginn desKonflikts, in den schlechtesten Zeiten des Kriegs in Aleppo, als die Hilfsprogramme unsere menschlichen und finanziellen Mittel völlig in Anspruch nahmen, hatten wir unsere Pädagogischen Projekte durchgehalten und neue begonnen. Unsere Hilfsprogramme weiterhin verfolgend, haben wir uns entschlossen, die Programme der menschlichen Entwicklung zu verstärken. Wir glauben fest daran, dass die Entwicklung des Menschlichen dazu beiträgt Frieden zu schaffen und die Zukunft zu gestalten. Wir werden auf keinen Fallunsere Hilfsprogramme einstellen, die Menschen haben sie weiterhin nötig.
So haben wir ein neues Projekt gestartet, welches wir JOB nannten, Job als englische Bezeichnung für Arbeit, und Job für den Propheten, der durch seine Geduld berühmt ist, eine Eigenschaft, die für den Erfolg unseres Projekts nötig ist. Es geht darum für unsere jungen Leute eine Anstellung zu finden, die Entstehung kleiner Projekte zu fördern und zur beruflichen Bildung zu motivieren. Die Familien sollen unabhängig von den mehr als 5 Jahre erhaltenen Hilfen werden, die wir normalerweise eines Tages aufgeben müssten. Wir wollen sie ermutigen im Lande zu bleiben, damit sie schließlich am Wiederaufbau Syriens teilhaben. Eine Gruppe von Ehrenamtlichen widmet sich dieser Aufgabe. Sie erstellt Listen von Stellenangeboten und Nachfragen und vermittelt zwischen beiden. Sie hilft jungen Leuten ihre eigenen Berufsvorstellungen zu verwirklichen und unterstützt sie dabei auch finanziell. Andere jungen Leute bildet sie in in Handwerksberufen aus, indem sie diese auf unsere Kosten in Ausbildungszentren schickt. Schließlich gründet sie Produktionsstätten um Arbeitsplätze zu schaffen, wobei sie für die Rentabilität des Geschäfts garantiert. So werden wir in Kürze eine Werkstatt für Recycling von gebrauchter Kleidung ins Leben rufen, was Arbeit für ein Dutzend Frauen bringen wird.
Unser Bildungszentrum für Erwachsene, das M.I.T., das Ende 2013 gegründet wurde, feierte vor zwei Wochen sein vierjähriges Bestehen mit einem Treffen, zu dem wir alle Verantwortlichen der karitativen Organisationen und der Organisationen zur Stadtentwicklung von Aleppo eingeladen hatten. Während 4 Jahren haben wir 77 dreitägige Workshops organisiert, an denen 1404 Personen teilnahmen, und die von 28 Lehrern geleitet wurden. Weiter organisierten wir 2 Kurse von 100 Stunden für Erwachsene mit dem Thema „ wie verwirkliche ich mein eigenes Projekt“. Die 6 besten Projekte hinsichtlich Machbarkeit und Schaffung von Arbeitsplätzen unterstütztenwir finanziell. Wir führen diese langfristigen Kurse zu demselben Thema weiter, um möglichstvielenjungen Leuten eine Chance zu geben, ihr eigenes Geschäft aufzubauen. Im Bedarfsfall geben wir auch finanzielle Hilfe.
In Zusammenarbeit mit UNDP (Programm der Vereinten Nationen zur Entwicklung) werden wir eine Produktionsstätte für Baby- und Kinderkleidung eröffnen, die Arbeit für 24 Frauen bietet und von einem Blauen Maristen geleitet wird. Wir werden auchauf die Bitte von UNDP für 2 Monaten die Leitung für 3 Projekte übernehmen, welche zum Ziel haben, Verbindungen zwischen verschiedenen Gruppen der Bevölkerung von Aleppo, diewährend des Kriegs überreizt oder zerbrochen waren, wieder neu zu knüpfen, die Wunden vernarben zu lassen und um das soziale Netzdes künftigen Syriens zu reparieren.
Alle andern pädagogischen Projekte laufen weiter. Die Projekte für Kinder von 3 bis 6 Jahren „ wachsen lernen“ und „ich will lernen“ nehmen ihre Arbeit mit Kindern am 2. Oktober wieder auf, nachdem die 24 Lehrer den ganzen Sommer damit verbracht haben unsere eigenen Erziehungsprogramme zu entwickeln. Die Gruppe „Skill School“ für Heranwachsende arbeitete unermüdlich an der Aufstellung eines Jahresprogramms. “Zuschneiden und Nähen“ läuft weiter mit Ehepaaren , Müttern und Mädchen, „Kampf gegen Analphabetismus“,„Hoffnung“ und „Douroub“ werden ihre Arbeit bald wieder aufnehmen.
Durch alle diese Programme versuchen wir Menschen zu befähigen, ihre Zukunft zu gestalten und ihnen Werkzeuge für eine berufliche Tätigkeit, von der sie leben können, an die Hand zu geben.
Unsere Hilfsprogramme laufen weiter.Nach eingehenden Überlegungen und Aussprachen innerhalb unserer Mannschaft kamen wir zu dem Urteil, dass die Hilfen für die Bevölkerung immer noch nötig sind und der Zeitpunkt zur Verringerung des Volumens unserer Hilfe noch nicht gekommen ist, dies um so mehr, wenn der Ehemann als Reservist zu den Waffen gerufen wird.
Wir verteilen weiterhin jeden Monat Lebensmittel- und Sanitärkörbe an etwa 1000 Familien. Wir helfen den vertriebenen Familien ihre Wohnungsmieten zu bezahlen, wir verteilen Wasser an die, welchen es mangelt. Zum Schulanfang schenkten wir allen unseren Familien Gutscheine zu Kauf von Schulbedarf. Unser Programm „ein Tropfen Milch“ist im 29-sten Monat der Verteilung von Milch an Kinder unter 10 Jahren.
Was unsere 2 medizinischen Programme betrifft, freuen wir uns mitteilen zu können, dass das Projekt „Zivile Kriegsverwundete“zurückgeht dank der sich verringernden Zahl von Kriegsverwundeten in Aleppo seit seiner Befreiung. Dagegen nimmt unser medizinisches Programm für Kranke, die finanziell nicht in der Lage sind sich zu pflegen oder operieren zu lassen, immer größeren Umfang an – angesichts der Zahl der Bedürftigen.
Im Sommer organisierten wir in unserem Gelände einen Sommerclub, zu dem nachmittagsFamilien mit ihren Kindern kamen um sich zu erholen, zu spielen, angenehme Stunden mit ihren Freunden bei einem Kaffee oder einem Erfrischungsgetränk zu verbringen.
Während der letzten 6 Jahre haben wir sehr verschiedene Perioden durchlebt, die wir auf unterschiedliche Weise bewältigen mussten. Die aktuelle Situation „weder Krieg noch Frieden“ ist eine der schwierigsten, denn unsere Reaktionen auf diese Situation sind nicht augenfällig. Sie fordert von uns ein permanentes Überdenken und Anpassung an neue Erfordernisse, und von den betreuten Familien eine Umerziehung auf den so sehr herbeigesehnten Frieden. Wir wollen die Hoffnung in die Menschen säen und sehen, wie sie aufblüht in Vertrauen, Gelassenheit und Liebe.
Die weltweiten Maristen Brüder, unsere Partner innerhalb der Blauen Maristen, mit denen wir in Charisma und Spiritualität verbunden sind, halten augenblicklich ihr 22-ste Generalversammlung in Kolumbien ab, bei welcher die Brüder die Orientierung der Kongregation für die kommenden Jahre festlegen und eine neue Führungsmannschaft wählen werden. Die Wahl von Kolumbien für diese Veranstaltung, obwohl der Hauptsitz noch immer Rom ist, bezeichnet den Willen der Kongregation sich „neuen Horizonten“ zu öffnen und den Frieden zu unterstreichen, der sich in diesem Land entwickelt, nachdem es seit Jahrzehnten Opfer eines Kriegs war.
Auch wir, die Blauen Maristen, träumen davon auf neue Horizonte zu zugehen, zu einem Neubeginn einer Periode des Aufbaus im Zusammenleben, in der Eintracht, der Staatsbürgerschaft, die für den Frieden verantwortlich ist.
„Weder Krieg noch Frieden“ war der Titel dieses Aleppobriefes Nr. 31. Möge in drei Monatendie Nr. 32 lauten:Kein Krieg mehr, sondern wahrhaftiger Frieden.
Aleppo, 24. September 2017
Nabil Antaki
Im Namen der Blauen Maristen
Mit freundlichem Gruß
und guten Wünschen an alle, welche sich am Aufbau Syriens beteiligen.
Wilfried Puhl-Schmidt
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